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Europas Energiekrise und der 1.000-Mrd.-Erdgas-Schatz der Niederlande

Der russische Präsident Wladimir Putin dreht den Gashahn Richtung Westen zu und Europa steht vor einer massiven Energiekrise. Im Norden der Niederlande, in der Provinz Groningen, liegt das größte Erdgasfeld auf europäischem Boden. Es ist geschätzte 1.000 Milliarden Euro wert. Doch die Regierung hat beschlossen, die Quellen zu schließen und die Erdgasförderung in der Region zu beenden - trotz Ukraine-Krieg und akuter Versorgungsknappheit.

Gasbefürworter und -gegner führen vor Ort erbittert eine wieder aufflammende Debatte: Den beschlossenen Gasförderstopp durchziehen oder angesichts von Krieg und Gasknappheit in Europa doch wieder ankurbeln?

Mit dem Gas-Schatz den europäischen Nachbarn helfen?

In der Region Groningen leiden 10.000 Menschen unter der Angst vor Erdbeben, Extremstress und dadurch zu Tage tretenden medizinischen Folgeproblemen, denn die Gasförderung löst Erdstöße aus. Seit den 90er Jahren hat hier der Untergrund schon 1000 bis 1.200 Mal gebebt, je nach Zählweise.

Meist - aber nicht immer - sind es schwächere Stöße, manchmal gibt es aber auch mittlere Beben. Das ist ein Problem in einer Gegend, in der traditionell mit Backstein gebaut wird. 27.000 Häuser haben Risse im Mauerwerk und sind offenbar nicht mehr sicher genug, um darin zu leben, sagen Anwohnervereine. Die Untersuchungen laufen noch, die Regierung schickt derzeit Gutachter quer durch die Provinz.

In Woltersum droht das 1905 erbaute Müller-Haus einzustürzen, in dem Laurens Mengerink mit seiner Familie lebt. Am Haus sind große Stützbalken angebracht, Steine haben sich aus den Mauern gelöst. Laurens Mengerink macht sich Sorgen um seine Familie, sein Haus, sein Dorf.

Er führt mich durch die Dauerbaustelle, deutet mal hier, mal da auf einen riesigen Riss. Hinter einer Hausecke kontrolliert er den Sitz eines Kronkorkens: "Den habe ich tief ins Mauerwerk gedrückt, in einen der breiten Risse, als Kontrollmarker. Alle paar Wochen fällt er auf den Boden - weil der Riss wieder einen halben Millimeter breiter geworden ist", seufzt Mengerink.

Nach langem Zögern hat er sich nun dazu durchgerungen, das ganze Anwesen abreißen zu lassen - und erdbebensicher ein neues Haus zu bauen. Aber der örtliche Denkmalschutz hat Bedenken angemeldet, schließlich lebt Mengerink im historischen Haus des Dorfmüllers. Nur: Würde Mengerink den überall von Rissen durchzogenen Bau baulich massiv verstärken, dann reichte die angebotene Entschädigungssumme bei weitem nicht aus. Hinzu kommt, dass der zu Rate gezogene Maurer schlicht nein gesagt hat. Denn die Schäden sitzen mittlerweile auch im Fundament, wenn es da beim nächsten Mal etwas stärker bebt, ist das Müllerhaus ein einziger Schutthaufen.

Dass die Menschen in Groningen wütend sind, ist logisch. Bis vor kurzem herrschte weitgehend Einigkeit in der Region: Erdgas? Nein Danke! Doch seit Putins Krieg in der Ukraine ändert sich das. Jüngste Umfragen zeigen, dass mittlerweile eine Mehrheit der Anwohner:innen bereit wäre, das Risiko einer verlängerten Gasförderung zu akzeptieren.

Obwohl Laurens Mengerink unter der Situation leidet, vertritt er eine solidarische Position. Er wäre damit einverstanden, noch eine Weile Gas aus dem Boden zu holen, erklärt er mir beim Interview unter seinem Apfelbaum. Denn "im Winter sollen es alle warm haben". Allerdings sollten auch alle anderen ihren Beitrag leisten, sprich: Gas und Energie sparen, wo möglich.

Wegziehen will er auf gar keinen Fall, trotz Erdstößen. Ganz im Gegenteil, er sieht die Zukunft grün und nachhaltig, auch in seinem kleinen Dorf. Hier hat er mit Nachbarn eine Energie-Kooperative gegründet, wenige Tage nach unserem Interview wurde ein Windrad aufgestellt, drei weiter sollen folgen. "Unser Ziel ist, dass unser Dorf in zehn Jahren energieneutral ist", strahlt Mengerink unternehmungslustig.

Doch das heutige, unmittelbare Erdgas-Dilemma ist damit nicht gelöst: Je mehr Erdgas gefördert wird, umso stärker die Erdstöße. Wer sich also damit einverstanden erklärt, dass noch einige Zeit weiter gefördert wird, nimmt bewusst das Risiko von weiteren Schäden in Kauf. Und mit sinkendem Druck in der riesigen Erdgasblase wird es nicht bei 3,6 auf der Richterskala bleiben - das was die Stärke des bislang heftigsten Bebens in der Region, vor zehn Jahren.

Ich verabschiede mich von Mengerink, die Fahrt geht vorbei an Windmühlen, Wasserkanälen, grünen Wiesen mit Kühen, Schilfflächen... eine niederländische Bilderbuchlandschaft. Dann versperrt an einer Ortseinfahrt auf einmal ein Schwerlasttrransporter die Straße. Eine Mega-Monster-Maschine raupt sich im Zeitlupentempo auf die Ladefläche, Warnleuchten, Rufe der Einweiser, große Aufregung...

80 Prozent der Häuser werden abgerissen

Overschild ist eines der am schlimmsten betroffenen Dörfer. Der ganze Ort ist eine einzige Baustelle. 80 Prozent der Häuser werden abgerissen und neu gebaut – diesmal erdbebensicher. Dabei helfen gigantische Rammer, die stabilisierende Stahlpfeiler tief in den Untergrund treiben. Neu gebaute Häuser werden sozusagen "auf Pfeilern" gebaut.

Bewohner beklagen Behördenprobleme: Es ist ein jahrelanger Kampf um jeden Cent Entschädigung. Wer ist verantwortlich? Was lief schief? Das klärt nun eine parlamentarische Untersuchungskommission.

Auch Jannie und Bert Scharge aus Overschild zeigen sich solidarisch und würden ihren europäischen Nachbarn helfen. "Können wir hier glücklich leben, wenn wir wissen, dass Menschen, die auf Gas angewiesen sind, frieren und hungern? Nein!“, sagt Jannie Scharge energisch.

Das Rentnerehepaar hat seit einigen Monaten wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, Bert füttert Fische im neu angelegten Gartenteich - oder bastelt an seiner Modelleisenbahnanlage, Jannie wirft sich mit Verve in die Gartenarbeit. Auch für sie war wegziehen nie eine Option, sie hängen an ihrer Heimat. Aus dicken Ordnern holen die beiden Unterlagen, zeigen mir Fotos von Rissen, erzählen von ihrem jahrelangen Kampf gegen bürokratische Windmühlenflügel.

Und doch: Ukraine, Gaskrise, Energiepreise, Versorgungsknappheit sind Argumente, die bei Menschen wie den Scharges ein Umdenken bewirkt haben. Auch bei mehrmaligem Nachfragen meinerseits bleiben Jannie und Bert bei ihrer neuen Auffassung: Wenn es wirklich notwendig ist, in einer echten Gas- und Energienotlage in Europa, dann sind sie einverstanden damit, dass das Gas unter ihren Füßen auch künftig hochgepumpt wird, für eine Übergangszeit, solange eben die Krise dauert.

Bürger-Lobby: Keine weitere Förderung, es geht um Menschenleben!

Doch nicht alle teilen diese Sicht. Jahrzehntelang ignorierte der Staat die Sorgen der Menschen. Rund 4.000 Geschädigte haben sich in der Groninger Bodem Beweging zusammengetan: Die mächtige Lobby hat durchgesetzt, dass die Regierung ein vorzeitiges Ende der Förderung beschlossen hat. Das war vor Russlands Überfall auf die Ukraine. Es ist eine offizielle Entscheidung, die bis heute nicht revidiert wurde, obwohl sich sämtliche Rahmenbedingungen verschoben haben.

Der Sprecher der Initiative, Coert Fossen, sagt, es gehe um Menschenleben, und da gebe es "nichts zu verhandeln". Auch wenn die europäischen Nachbarn auf Hilfe (sprich: Erdgas) aus den Niederlanden warten.

Andererseits mehren sich seit einigen Monaten die Stimmen jener, die darauf drängen, dass die Regierung ihre Entscheidung noch einmal überdenken solle, zumindest dahingehend, dass das Erdgas aus Groningen zumindest noch in der jetzigen, schwierigen Phase weitergefördert werden solle.

So Beispielsweise Machiel Mulder, Professor für die Regulierung der Energiemärkte an der Universität Groningen, der auf ein technisches Detail aufmerksam macht. Es ist zwar richtig, dass momentan Erdgasquellen "geschlossen" werden. Aber - und das ist ein nicht unwesentliches Detail - diese Schließung ist (derzeit noch) kein Rückbau der Anlagen. Anders formuliert: Die Erdgasquellen werden nicht ganz und gar verschlossen...

Professor Mulder im Interview:

"Im Notfall könnte das Gasfeld wieder geöffnet werden. Wenn Menschen in Deutschland, Estland oder anderswo unter echter Gasknappheit leiden, dann ist das eine Notlage. Und dann wird die Entscheidung überdacht werden müssen, ob man das Gasfeld Groningen wieder aufmacht, um mehr Erdgas zu fördern."

Auch in den so genannten "sozialen Medien" wird die Frage "Gas zu: sofort oder später?" erneut hitzig debattiert.

Unlängst wurde von Unternehmerseite sogar die Idee eines Groningen-Referendums ins Gespräch gebracht: Warum nicht eine Volksbefragung organisieren, fragen manche. Das könnte die Debatte auf eine breitere Grundlage stellen.

Treibhausindustrie kann 900 Millionen Kubikmeter Gas sparen

Insbesondere die niederländische Treibhaus-Industrie leidet massiv unter den explodierenden Gas- und Energiepreisen. 81.000 Arbeitsplätze hängen an dieser Branche. Bereits im Sommer hatte die Hälfte der Betriebe wegen der Gasrechnung große Geldsorgen, einige Betrieben schlossen, andere haben ihre Produktionszyklen geändert. Eine Verlängerung der Gasförderung in Groningen könnte die Lage entspannen.

Ich habe mich mit Juliska van der Breggen verabredet, sie managt einen Familienbetrieb, der sich auf Chrysanthemen spezialisiert hat. Die meisten Blumen gehen nach Skandinavien, Frankreich, Belgien und Deutschland.

Der Ganzjahresbetrieb braucht viel Gas, damit wird die Luft entfeuchtet. Die Gasrechnung hat den Betrieb bereits tief ins Minus gedrückt. Jetzt muss gespart werden, wo es geht. "Was tun Sie, um den Betrieb zu retten", frage ich Juliska van der Breggen.

Die Managerin des Blumenbetriebes hat alles genau durchgerechnet und glaubt, eine Lösung gefunden zu haben: "Einen Produktionsstandort mussten wir schließen und 30 Prozent unserer Angestellten entlassen. Das Problem sind die hohen Energiekosten - und wir müssen den Energieverbrauch drosseln. Es ist möglich, 30 Prozent zu sparen, mit Innovation, neuer Technik, neuer Beleuchtung, einem anderen System zur Kontrolle der Luftfeuchtigkeit... Das kann man auch auf die gesamte Branche hochrechnen: Wir können alle zusammen 900 Millionen Kubikmeter Gas einsparen - das entspricht dem Jahresverbrauch von drei niederländischen Großstädten."

Notlösung: Flüssiggasimport aus Übersee

Nur Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine beschlossen die Niederlande den Bau weiterer Flüssiggas-Terminals. Damit soll beides zugleich ermöglicht werden: Einerseits die Schließung des Groninger Gasfeldes und andererseits die sichere Versorgung der Niederlande und aller Nachbarn mit Gas - trotz Putins Gaslieferstopp. Mit Deutschland und Belgien haben die Niederlande langfristige Gaslieferverträge abgeschlossen - und Verträge müssen gehalten werden, sprich: die Niederlande müssen weiterhin Erdgas an die Nachbarn liefern.

Es ist ein grauer Vormittag heute. Ich warte im Industriehafen von Eemshaven. Gegenüber liegt leuchtend rot das nagelneue Flüssiggasterminal der Niederlande. Gleich daneben ankert ein Supertanker für Erdgas, auch er ist angemietet, liegt fest an der Kette, ist quasi ein schwimmender Erdgasspeicher.

In einer Stunde wird die Murex erwartet. Der Tanker aus Übersee bringt verflüssigtes Fracking-Gas aus Texas nach Europa. Das ist der Haken der Geschichte: Umweltverdreckendes Fracking-Gas ersetzt die vergleichsweise "sauberen" Moleküle von Groningen. Klar, es handelt sich in beiden Fällen um fossile Energie - für das Klima ist beides schädlich. Aber die Energiebilanz für das Fracking-Gas aus den USA ist eindeutig schlechter. Muss der Klimaschutz in der jetzigen Versorgungsnotlage erst einmal zurückstecken? Für wie lange? Ein Jahr, zwei, gar vier Jahre?

Ich gehe einige Schritte mit Han Fennema, dem CEO des niederländischen Netzbetreibers Gasunie, am Ufer entlang, vorbei an grasenden Schafen zwischen Kohlekraftwerk und Flüssiggas-Tankern. Träge Windkraftanlagen vermühlen tiefliegende Wolken mit Rauch aus Kohleschloten. Fennema sagt, mit den derzeitigen Flüssiggas-Terminals könne man schon eine Menge russisches Gas ersetzt.

"Mit diesem Terminal hier in Eemshaven, zusammen mit der Erweiterung des Flüssiggasterminals in Rotterdam, können wir 35 Milliarden Kubikmeter Gas von den Niederlanden in den Nordwesten Europas exportieren. Das ist mehr als wir in den Niederlanden verbrauchen." - Schon alleine die rote Schwimmplattform mit den imposanten Industrieaufbauten bringt es auf eine Jahreskapazität von acht Milliarden Kubikmetern.

Europa kann Krise

Ein Teil des Erdgases wird in das niederländische Gasnetz eingespeist, ein anderer Teil fließt weiter nach Deutschland, in die Tschechische Republik, nach Belgien und nach Frankreich. Vor allem für die Regierung in Prag ist das Erdgas aus den Niederlanden von enormer Bedeutung, dort wird gegen hohe Energiepreise demonstriert.

Europäische Solidarität, kontinentale Vernetzung, Rohstofflieferungen aus Übersee, schnelle Reaktion der Regierungen, fast volle Erdgasspeicher, technisches Know-How... wenn es hart auf hart kommt, dann können EU und Mitgliedstaaten durchaus Krise.

Nicht nur die Niederlande bauen Ihre Flüssiggasimport-Infrastruktur im Eiltempo aus. Auch Deutschland, Frankreich und weitere EU-Länder mieten schwimmende Terminals oder erweitern bestehende Anlagen. Aber reicht das auch?

Die Niederlande haben auch ihre Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. So wie Deutschland. Auch Frankreich... Das schadet dem Klima. Erdgas aus Groningen wäre weniger schädlich.

Ob die niederländische Regierung doch noch umdenkt? Derzeit sieht es nicht danach aus. Aber einige der Gasquellen werden nur provisorisch geschlossen. Im Notfall kann die Regierung das Gas aus Groningen schnell wieder ans Netz bringen. Der bevorstehende Winter wird spannend...