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Kommentar: Der Bundestag braucht mehr Abgeordnete ohne Studium

Kevin Kühnert bei einem SPD-Kongress im Dezember 2019 (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)
Kevin Kühnert bei einem SPD-Kongress im Dezember 2019 (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)

SPD-Vize Kevin Kühnert kandidiert fürs Parlament – und muss sich Häme für seinen fehlenden Uniabschluss anhören. Dabei geht echte Bildung auch anders.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Jetzt will der Bengel auch noch in den Bundestag. Rotzfrech hat Juso-Chef Kevin Kühnert mit seinen 31 jungen Jahren sein Karriereziel erklärt. Reicht es nicht, dass er der siechenden SPD den Posten eines Vizevorsitzenden abgepresst hat? Geht’s noch, fragen manche Zeitgenossen, vor allem aus Union und AfD.

Natürlich geht das.

Schauen wir uns den jungen Herrn mal an. Soso, in das Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (was ist das eigentlich?) klagte sich Kühnert ein, um es abzubrechen. Stattdessen dreieinhalb Jahre Callcenter. Dann ein nächster Versuch, Politikwissenschaft an der Fern-Uni Hagen. Bisher kein Abschluss. Und auch keiner in Sicht.

Die AfD-Abgeordnete Joana Cotar tippte dazu bei Twitter: "Kein Studium, keine Ausbildung, kein richtiger Beruf." Und bereits früher hatte Hans-Peter Friedrich von der CSU Kühnert als jemanden bezeichnet, der "nichts gelernt hat, nichts kann und nichts arbeiten will“. Das klingt nach dem „arbeitsscheu“ aus nicht allzu weit zurückliegenden Zeiten. Immerhin liefert Friedrich damit eine Jobbeschreibung, wie sie ihn als Bundesinnenminister charakterisierte, so überfordert war er im Amt. Auch bleibt ebenso ungeklärt, woher Friedrich sein intimes Wissen über Kühnerts mangelnden Arbeitseinsatz bezieht, wie die Einschätzung Cotars, die Arbeit in einem Callcenter sei kein richtiger Beruf. Den üben ziemlich viele in Deutschland aus – was halten die eigentlich davon, wenn eine Partei wie die AfD, die es ja offiziellermaßen „denen da oben“ zeigen will, abwertend über sie urteilt?

Wie wird das Volk vertreten?

Jene Bundestagsabgeordneten ohne Uni-Abschluss, die ich kennengelernt habe, gehören gewiss nicht zu den leitstungsschwächsten und am wenigsten kompetenten Parlamentariern. Überhaupt sollte ein Parlament versuchen die Gesellschaft zu spiegeln. Aber nur neun Volksvertreter haben im Bundestag einen Haupt- oder Volksschulabschluss, obwohl dies für ein Drittel aller Bundesbürger zutrifft. Ist es eine unbedingte Bereicherung für das Parlament, dass viele Juristen und Lehrer in ihm sitzen?

Allerdings ist Bildung ein hoher Wert, der geschätzt werden muss. Bildung geht gerade tendenziell flöten: In Zeiten der Digitalisierung wandert Wissen etwa einer humanistischen Bildung nicht mehr so von einer Generation zur anderen, wie es einmal war – und das ist nicht gut so.

Es kann keine Weisheit darin liegen, Uniabschlüsse nun für geringer zu erachten. Und natürlich offenbart sich bei Kühnerts Biografie ein Makel: Er ist kein Arbeiterkind, dem Bildungschancen verwehrt worden sind. Nach dem Abi brachte er für seine Studien bisher schlicht nicht die Leistung auf, die es braucht. Eine Ruhmestat ist das nicht. Dies machte wiederum aus ihm keinen automatisch schlechteren Volksvertreter. Er hätte genügend Chancen zu zeigen, ob er ein guter und ernsthafter Abgeordneter wäre oder nicht.

Hecheln nach oben, treten nach unten

Im Gerede von Cotar, Friedrich und vielen anderen offenbart sich also ein hierarchischer und abfälliger Habitus. Und es verdeckt zweierlei: Zum einen ist der Zugang zu Bildung und ihren Abschlüssen den oberen Klassen vorbehalten, es entscheidet also immer noch weitgehend der vererbte Geldbeutel, ob es einen Abschluss gibt oder nicht. Und zum anderen hat sich in Deutschland eine Abschlusseritis herausgebildet – denn viele „erfolgreiche“ Absolventen bringen das Studium nur hinter sich, ohne wirklich etwas mitzunehmen. Vieles bleibt hohle Konvention. Die Standards sinken dramatisch. Und die Promotionen von Politikern sind nur selten von wissenschaftlichem Erkenntnisgehalt: Sie werden irgendwie avisiert, weil man „das machen will“ und es der Karriere hilft, in Wirklichkeit aber nur inhaltsleere Verpackung bleibt; entsprechend durchgewunken werden die promovierenden Politiker.

In Deutschland verwechselt man allzu oft Bildung mit Akademikerstempel.

Es bräuchte also mehr Kühnerts. Und den Drang, Schule sowie Uni mehr mit Bildung als bleibendem Wert zu füllen und weniger als Fahrstuhl nach oben oder unten anzusehen.

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