Werbung

Kommentar: Thüringen verlangt von den Parteien Verrücktes

Supporters of Germany's left-wing Die Linke party react to the first forecasts of the results of the state elections in Thuringia, at the federal state parliamentin Erfurt, eastern Germany on October 27, 2019. (Photo by Jan Woitas / dpa / AFP) / Germany OUT (Photo by JAN WOITAS/dpa/AFP via Getty Images)
Bei den Anhängern der Partei Die Linke gingen in Thüringen die Arme hoch (Bild: Getty Images)

Die alten Parteien der Bundesrepublik werden abgestraft, während Linke und AfD Erfolge feiern: In Thüringen wird Regieren jetzt kreativ.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Thüringen hat auf die Pauke gehauen. Die bestehende Regierung aus Linken, SPD und Grünen wurde abgewählt – und selbst eine Koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP hätte keine Mehrheit: Klassische Parteien sind gerade nicht angesagt. Dagegen hoch im Kurs steht jede Regierungsspitze, wie schon bei den vergangenen Landtagswahlen in Brandenburg und in Sachsen – in Thüringen ist es die Linke. Und kräftige Opposition hat Erfolg: Die AfD verbucht ein gutes Ergebnis, der völkische Kurs ihres Landesvorsitzenden Björn Höcke, der ganz auf Führerwahlkampf setzte und bei dem keiner mehr überrascht hingesehen hätte, hätte die Thüringer AfD statt des schlumpfigen Parteiblau das alte Braun hervorgeholt.

Hintergrund: Rekordergebnis für Ramelow in Thüringen

Diese Landtagswahl setzt gleich mehrere Zäsuren. Eine Partei mit rassistischen und antidemokratischen Parolen holt viele Stimmen – das ist der krasseste Einschnitt, denn Höckes Thüringer Kameraden sind noch einmal ganz anders drauf als in westlichen Regionen.

Eine weitere Zäsur ist der Absturz der Parteien jener einstmals groß genannten Koalition aus CDU und SPD. Die Genossen stehen kurz vor der Bedeutungslosigkeit, während die Christdemokraten, welche bis vor fünf Jahren das Land seit 1990 ununterbrochen wie einen Erbhof regierten, orientierungslos umherirren, stark verunsichert von der Missbilligung durch die Wähler.

Ein breites Abstrafen

Auch der Höhenflug der Grünen wurde gestoppt. Die Ökopartei kann froh sein, wenn sie in den Landtag einzieht. Und die FDP? Deren einzige Wichtigkeit am Wahlabend zeigte sich in der Frage – inwiefern sich ein Nichteinzug auf die Sitzverteilung der anderen Parteien auswirken würde. Dass sie nun wahrscheinlich knapp drin sein wird, ändert nichts an der fehlenden Relevanz.

Dieser Sonntag kennt nur zwei Wahlgewinner und viele Verlierer. Neben der AfD, in der Höcke nun Rückenwind verspüren wird, um seine rechtsextreme Agenda noch stärker in den Bundesvorstand zu tragen, kann die in der Vergangenheit arg gebeutelte Linke mehr als aufatmen. Zum einen machte Ministerpräsident Bodo Ramelow einfach einen guten Job. Zum anderen gelang es ihm nahezu perfekt, sich als Landesvater zu präsentieren, über Parteigrenzen hinweg geachtet. Und die Thüringer Wahl bestätigt den Trend, dass in diesen unsicheren Zeiten die Wähler jenen vertrauen, die schon die Verantwortung innehaben. Es herrscht viel Krawallstimmung, aber auch ebenso viel Unwille tatsächlich die Pferde zu wechseln.

"Bin erschüttert": Twitter-Reaktionen zur Landtagswahl in Thüringen

Natürlich ist das Thüringer Ergebnis als Landesresultat zu zählen, mit begrenzter Aussagekraft für die ganze Republik. Aber eindeutig wünschen die Wähler viele Parteien in ihren Parlamenten. Für deren Vertreter heißt das, noch mehr miteinander zu reden, sich zuzuhören und sich um eine verantwortungsvolle Politik zu kümmern. Die Wähler erwarten, dass die Politiker zusammenführen und weniger spalten.

Altes Denken wird von der Gegenwart überholt

Wer dann Thüringen regieren wird, bleibt vorerst ungewiss. Zwar gibt es keine Frist für die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten – eine Besonderheit in diesem Bundesland. Aber Ramelow ist nicht zu raten, das komplizierte Wählervotum durch Aussitzen zu ignorieren. Kreativität ist nun notwendig. Sollte die FDP es in den Landtag schaffen, wäre auch ein Eintritt in die bestehende Regierung aus Linke, SPD und Grünen zu überlegen. Stabiler wäre ein Gedankensprung: nämlich ein Bündnis aus der stärksten Partei Die Linke mit der drittstärksten, der CDU. Vor nicht langer Zeit galten diese Parteien als absolute Antipoden. Nun finden sie sich in der Mitte wieder.

Die AfD wird übrigens bald wieder das anfangen, was sie am besten kann, das ist das Herumjaulen und Maulen. Die Rechtspopulisten werden lautstark bedauern, dass niemand mit ihnen reden wird, wenn es um die Regierungsbildung geht. Dies hat indes nichts mit einer angeblich fehlenden Demokratie zu tun, sondern schlicht mit der Unvereinbarkeit der AfD mit allem, was Rechtsstaatlichkeit und halbwegs vernünftiges Regieren ausmacht. Höcke wird es vielleicht gefallen. Nun kann er sich weiterhin seinen „Visionen“ hingeben und „jagen“.

VIDEO: Schwaches Abschneiden in Thüringen macht CDU ratlos