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Labor-Versuch Niederlande: Möglichst viele Infektionen für eine "Herdenimmunität"

Die niederländische Regierung spielt im Kampf gegen das Coronavirus mit der Idee der “Herdenimmunität”. Dabei soll sich der widerstandsfähige Teil der Bevölkerung möglichst umfassend mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 anstecken.

Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande. Er wollte mit sanften Appellen und ohne restriktive Maßnahmen durch die Krise der Coronavirus-Pandemie führen. Foto: Robert Michael / dpa-Zentralbild / dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande. (Bild: dpa)

Die niederländische Regierung hat erst spät ihre Maßnahmen zum öffentlichen Leben verschärft. Sie wollte sogar Schulen geöffnet lassen. Dahinter steckte wohl die Idee der „Herdenimmunität“, wonach es sinnvoll sei, dass sich möglichst viele junge und gesunde Menschen mit dem neuartigen Coronavirus anstecken.

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Herdenimmunität: Das Prinzip besagt, dass sich eine Krankheit nicht ausbreiten kann, weil ausreichend Menschen dagegen immun sind. Das wird erreicht, weil das körpereigene Immunsystem schon einmal mit dem Krankheits-Erreger zu tun hatte und sich bei einer erneuten Infektion – dank seiner Gedächtniszellen – erinnern kann. Was zu einer schnellen, hochspezifischen und sehr effektiven Reaktion führt, die dem Erreger keine Chance lässt. Dadurch ist nicht nur eine Person geschützt. Ihre Immunität sorgt dafür, dass sie die Krankheit nicht weitergeben kann an Menschen, deren Immunsystem dem Erreger gegenüber ungeschützt oder anfällig ist: Babys beispielsweise oder immungeschwächte Menschen oder – wie im Fall des Coronavirus – ältere Menschen, besonders die mit Herz-Kreislauf-Problemen.

Europa ist das Epizentrum der Pandemie

Um diese Menschen nicht anzustecken und damit zu schützen, haben die meisten Länder das öffentliche Leben beinahe vollständig gestoppt. Sie wollen Begegnungen und damit Übertragungen vermeiden. Derzeit bedeutet Abstand Anstand. China hat es vorgemacht mit häuslicher Quarantäne, Ausgangssperren und ganzen Städten und Regionen unter Lockdown. Mittlerweile sind die Ansteckungszahlen rapide gesunken. Am Donnerstag vermeldete das Land erstmals keine Neuinfektionen. Mittlerweile ist Europa das Epizentrum der Pandemie.

Ein Widerspruch? Viele Infektionen und gleichzeitig die Ausbreitung verlangsamen

Und mittendrin die Niederlande, die eine gänzlich andere Strategie verfolgt: Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) berichtet, möchte die Regierung, dass sich der widerstandsfähige Teil der Bevölkerung möglichst umfassend mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 ansteckt und die Krankheit wieder auskuriert, um eine Art „Schutzmauer“ für die Alten und Schwachen zu bilden. Die bleiben solange isoliert. Am Montag sagte Premier Mark Rutte dazu: „Wir können die Ausbreitung des Virus verlangsamen und gleichzeitig eine kontrollierte Gruppenimmunität aufbauen.“ Wichtig sei dennoch, die Kurve der Ansteckungen möglichst flach zu halten.

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Eigentlich wird eine Herden- oder Gruppenimmunität über eine flächendeckende Impfung mit inaktiven Erregern, die nicht zu einer Krankheit führen, erreicht. Dabei reagiert das Immunsystem und bildet Gedächtniszellen für die Zukunft. Flächendeckende Impfungen können Krankheiten vollständig ausrotten. Das Robert-Koch-Institut zeigt das anhand einer Simulation.

Weil es aber bislang – und wohl noch eine ganze Weile – keine Impfung gegen das neuartige Coronavirus gibt, bleibt nur der „natürliche Weg“: Ansteckung, Erkrankung, Immunreaktion, Erholung, Immunität.

Appelle statt Restriktionen

Die Idee der Herdenimmunität wurde zuletzt auch in Großbritannien verfolgt. Der wissenschaftliche Berater von Premier Boris Johnson, Patrick Vallance, vertrat es überzeugt. Doch mittlerweile, nach massiver Kritik, ist Johnson dazu auf Distanz gegangen. In den Niederlanden stellt Rutte die Herdenimmunität laut SZ als herrschende wissenschaftliche Meinung dar – unterstützt von Jaap van Dissel, oberster Virologe am „Reichsinstitut für Volksgesundheit und Umwelt“. Der sagt: „Wir wollen das Virus kontrolliert unter jenen sich verbreiten lassen, die damit wenig Probleme haben.“

Die niederländische Regierung beschränkte sich deshalb zunächst auf Appelle, etwa öfter die Hände zu waschen. Schulen sollten sogar erst offen bleiben. Mittlerweile hat sich das geändert, die Maßnahmen sind restriktiver und gehen ähnlich weit wie in anderen Ländern: Mehr als 100 Menschen dürfen nicht zusammenkommen. Gastronomie, Kulturveranstaltungen und Geschäfte sind und bleiben geschlossen.

Die Weltgesundheitsorganisation hält den niederländischen Ansatz für gefährlich. Weil er darauf beruht, dass Menschen nach einer überstandenen Infektion auch tatsächlich immun sind und bleiben. Was noch nicht erwiesen ist. Auch wenn es Hinweise darauf gibt: Etwa eine Untersuchung der „Chinese Academy of Medical Sciences“, die an vier Rhesusaffen zeigen konnte, dass nach einer überstandenen Infektion eine Immunität eintritt. Der leitende Virologe der Berliner Charité Christian Drosten hält das chinesische Ergebnis für relevant, er sagt in seinem NDR-Podcast: „Rhesusaffen sind so nah mit dem Menschen verwandt, dass bei Krankheiten das Krankheitsbild sehr ähnlich verlaufen muss und dass die Immunität auch große Ähnlichkeit hat.“ Er schränkt aber auch ein, dass Affen im Detail keine Menschen seien und man noch eine klinische Beobachtung brauche.

Herdenimmunität sei nie das Ziel gewesen

Ebenfalls vielversprechend waren Drosten zufolge Beobachtungen im Münchner Klinikum Schwabing, wo im Februar die ersten Covid-19-Patienten aus Deutschland behandelt wurden. Das seien keine komplizierten Fälle gewesen, dennoch hätten die Patienten und Patientinnen am Ende der ersten Woche Antikörper entwickelt. Drosten sagt dazu: „Darüber habe ich mich sowohl gewundert als auch gefreut. Denn es spricht dafür, dass sich die Immunität bei dieser Infektion schnell einstellt.“

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Auch wenn sich diese Hinweise in weiteren Studien bestätigen sollten, dürfen dennoch nicht zu viele Krankheitsverläufe in den Niederlanden drastisch verlaufen - bei der zu erwartenden schnellen und breiten Infektion in der jüngeren Gesellschaft. Im ganzen Land gibt es laut SZ rund 1.000 Intensivbetten, bei einer Bevölkerung von 17 Millionen. Deutschland hat zum Vergleich rund 28.000 Intensivbetten. Es könne dem Mikrobiologen Roel Coutinho zufolge, bei schnell steigenden Infektionszahlen, deshalb zu „italienischen Zuständen“ in der Niederlande kommen. Für den Aufbau von Gruppenimmunität müssten mindestens 60 Prozent infiziert sein. Immunologen errechnen daraus die Zahl von 40.000 bis 80.000 niederländischen Corona-Toten.

Nach langem Hin und Her sah sich Rutte am Mittwoch zu einer Erklärung veranlasst. Darin hieß es, dass Gruppenimmunität nie das Ziel gewesen sei. Sie könne langfristig aber die Folge sein. Auf keinen Fall wolle man erreichen, dass sich Menschen ansteckten.

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