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Lockdown-Streit bei "Anne Will": "Wir geraten in eine strategische Sackgasse"

Ist der nächste Lockdown in Deutschland schon unvermeidlich oder eine "strategische Sackgasse"? Bei Anne Will rangen die Diskutanten um die richtige Strategie zur Bewältigung der zweiten Corona-Welle. Konstruktive Ansätze wurden genannt - doch reicht zu deren Umsetzung die Zeit?

Geht es nach Armin Laschet, wird der für Anfang Dezember geplante CDU-Parteitag nicht wie geplant stattfinden können. Nach mehr als fünf Stunden Marathon-Sitzung im Konrad-Adenauer-Haus war der NRW-Ministerpräsident erst fünf Minuten vor Beginn der jüngsten "Anne Will"-Ausgabe am Sonntagabend im TV-Studio eingetroffen, wie die Gastgeberin bemerkte. Befragt zu seiner Haltung in der strittigen Parteitagsfrage, verwies Laschet auf eine gefährliche Signalwirkung für die Bevölkerung. In einer Zeit, in welcher der Besuch von Großveranstaltungen untersagt sei, könne man nicht "mit tausend Menschen einen Präsenzparteitag machen".

Konsens in der Parteispitze sei diese Haltung aber - noch - nicht, ließ Laschet durchblicken. Friedrich Merz, sein wohl aussichtsreichster Konkurrent um den CDU-Parteivorsitz, habe mit der Feststellung, dass Deutschland "keinen Staatsnotstand" habe, für die geplante Durchführung plädiert. Die Entscheidung wurde vertagt. Die Noch-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer werde im Laufe des Montags dem Präsidium einen Vorschlag unterbreiten.

Dass Deutschland derzeit noch deutlich größere Sorgen hat als die Durchführung der Kür des neuen CDU-Chefs wurde nach der investigativen Talk-Ouvertüre dann aber auch nicht vergessen. "Corona-Infektionen erreichen Höchstwerte - hat Deutschland noch die richtige Strategie?", hatte die "Anne Will"-Redaktion die Sendung übertitelt. Auf die Frage, ob sich ein neuer Lockdown angesichts der dramatischen Fallzahlen-Entwicklung noch vermeiden lasse, wich Laschet aus: Die Lehre aus dem März laute, dass es ein Fehler gewesen sei, Schulen und Kitas als Erste zu schließen. Nun komme es darauf an, in allen anderen Lebensbereichen, insbesondere beim Freizeitverhalten, einzugreifen, um Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, aber auch die Wirtschaft "möglichst unberührt zu lassen". - "Sie schließen einen Lockdown nicht aus?", hakte Anne Will nach, doch Laschet blieb bei seiner Botschaft: "Ich will jetzt nicht die Meldung 'Laschet schließt nicht aus'. Ich kämpfe jeden Tag dafür, dass es dazu nicht kommt."

"Lockdown ist nicht das Allheilmittel"

Ähnlich äußerte sich im Studio Berlins Regierender Bürgermeister, gleichwohl Michael Müller das Schreckensszenario Lockdown unlängst selbst aufgeworfen hatte. Eine genaue Zahl, wann es dazu kommen müsste, wollte der SPD-Politiker nicht nennen. Doch angesichts immer stärker genutzter Intensivbetten in der Hauptstadt frage er sich: "Wie lange können wir medizinisch gut die Berlinerinnen und Berliner versorgen?" Zum Reizwort bemerkte er: "Das Thema Lockdown ist ein weites Feld. Wir hatten nie wirklich einen in Deutschland." Ausgangssperren wie in europäischen Nachbarländern habe es schließlich nicht gegeben. Dass es nun nicht dazu komme, sei auch eine Frage des Erfahrungsgewinns. Man könne mit "sensiblen Bereichen wie Pflege, Kita und Schule" mit dem heutigen Wissensstand anders umgehen als noch im April. Auch von Müller wollte Anne Will wissen, ob er Schulschließungen denn ausschließen könne. Die viel sagende Antwort: "Wer von uns kann im Moment irgendetwas ausschließen?"

Zu einer anders akzentuierten Bewertung der Lage kam Julian Nida-Rümelin. Der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister im Kabinett Gerhard Schröder mahnte: "Ich glaube, dass wir dabei sind, in eine strategische Sackgasse zu geraten." Nach den Erfahrungen, die es weltweit mit Lockdowns gebe, dürfe sich ein solches Szenario unter keinen Umständen wiederholen. Nida-Rümelin bemühte dazu den "internationalen Vergleich": Peru stehe mit seinen harten Anti-Corona-Maßnahmen schlechter da als das chaotisch regierte Brasilien. Selbst die "schrecklich gemanagte Coronarkrise in den USA" habe auf eine Million Einwohner heruntergerechnet bislang weniger Todesfälle zur Folge gehabt, als es sie in Spanien mit seinem "massiven Lockdwon" zu beklagen gebe.

"Lockdown ist nicht das Allheilmittel", schlussfolgerte Nida-Rüdelin, der in dem Zusammenhang auch die Ansprache der Kanzlerin kritisierte: Deren Appell "Vermeiden sie Kontakte!" sei "Monate hinter dem Sachstand". "Sie können Theaterveranstaltungen machen mit Hunderten von Gästen, ohne dass es dort zu Infektionsgeschehen kommt." Die Gesundheitsämter könnten das bestätigen.

"Wir verletzen im Grunde alle Grundrechte von Artikel 1 angefangen"

Die angesprochenen Gesundheitsämter waren auch selbst Gegenstand der Diskussion. Deren aktuelle Überlastung zeige, dass sie nicht ausreichend vorbereitet waren auf die zweite Welle, stellte Nida-Rümelin fest. Mehr noch: Das "entscheidende Instrumentarium" habe man "sich selbst aus der Hand geschlagen". Was der Geisteswissenschaftler meinte: "Das Infektionsgeschehen mit den digitalen Tools des 21. Jahrhunderts softwaregesteuert zu kontrollieren."

Dass an dieser Stelle der Datenschutz ins Feld geführt werde, leuchte ihm nicht ein: "Hier geht es um berufliche Existenzen, wirtschaftliche Existenzen, Bildungszukunft. Wir verletzen im Grunde alle Grundrechte von Artikel 1 angefangen bis Artikel 19, und dann sagen wir: Informationelle Selbstbestimmung ist so hoch zu halten, dass wir lieber einen Lockdown machen als in dem Punkt Einschränkungen." Der Philosoph verlangte nach einer "Tracking-App statt Zettelwirtschaft bei den Gastwirten". Eine Forderung, die bei Kaschlin Butt, der aus Hessen zugeschalteten Leiterin des Gesundheitsamts Wiesbaden, auf viel Zustimmung stieß. Nur FDP-Veteran Gerhart Baum ging da nicht mit. Eine App nütze gar nichts, "wenn die Leute nicht mitmachen", wandte der frühere Innenminister unter Kanzler Helmut Schmidt ein. Die Menschen müssten vor allem "Vertrauen haben" und über die Parlamente stärker in den demokratischen Entscheidungsprozess eingebunden werden.

Beantwortet war die Frage nach einer auch kurzfristig wirksamen Strategie zur Abwendung des nicht nur von der Kanzlerin befürchteten "Unheils" für die Republik damit immer noch nicht. Die Biochemikerin und Virologin Helga Rübsamen-Schaeff setzt immerhin große Hoffnungen auf 20-Minuten-Antigen-Schnelltests. Die möge man doch so weit wie möglich einsetzen. "Denn dann hat man das Nachverfolgungsproblem nicht mehr." Alleine: In größerer Menge verfügbar werden die neuen Schnelltests wohl frühestens im neuen Jahr sein. Bis dahin - da gab auch die "Anne Will"-Runde keinen Anlass zur Entwarnung - drohen ungemütliche Tage im Land.