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Russischer Sieg über die Ukraine ist immer weniger möglich

Der Krieg Russlands in der Ukraine hat seine Ziele nicht erreicht. Wie lange ist die Bevölkerung bereit, die Augen vor Gräueltaten zu verschließen und den absehbar noch hohen Preis zu bezahlen?

Berlin (dpa) - Drei Monate nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat Präsident Wladimir Putin sein Land in eine Situation militärischer und wirtschaftlicher Schwäche manövriert.

Es sind nicht nur die Misserfolge auf dem Schlachtfeld. Auch aus einem weiteren Blickwinkel wendet sich die Lage zur Ungunst Moskaus: Das Schwarze Meer ist für die Flotte praktisch blockiert, die Ostsee wohl bald schon ein Binnenmeer fast ganz umgeben von Nato-Staaten, die dann bis in den höchsten Norden an Russland grenzen.Und wird das machtbewusste China einem nach Alternativen suchenden und sanktionierten Russland noch Augenhöhe zugestehen?

Schon jetzt seien die Verluste Russland in der Ukraine so hoch wie die der Sowjets in Afghanistan, schätzte der britische Geheimdienst am Montag - und geht davon aus, dass das bald auch die öffentliche Meinung in Russland beeinflussen werde.

Dazu kommen die Folgen für Betriebe und Staatseinnahmen in Russland. Der Verkauf von fossiler Energie garantiert keine stabilen Einnahmen mehr, auch wenn Öl und Gas auf den Weltmärkten zu Höchstpreisen gehandelt werden. Auch der «brain drain» - der Verlust schlauer Köpfe aus den Technikbranchen - kann zum Problem für Russland werden.

Putin müsse für seine «Barbarei» in der Ukraine einen hohen Preis bezahlen, forderte US-Präsident Joe Biden. Er könne die Ukraine nicht besetzen. «Ich glaube, Putin versucht, die Identität der Ukraine auszulöschen», warnte der US-Präsident, der Milliardenbeträge für die Verteidigung der Ukraine bereitstellt. Moderne und schwere Waffen schicken auch die Europäer. Der ganze Krieg ist für das westliche Bündnis wie eine sicherheitspolitische Frischzellenbehandlung.

Moskau musste seine Ziele dagegen deutlich runterschrauben und forciert Angriffe auf Sjewjerodenezk und Lyssytschansk. Der Ballungsraum um die ehemaligen Großstädte ist der einzige Flecken in der Region Luhansk im Osten der Ukraine, den die kiewtreuen Truppen noch halten. 90 Prozent des Territoriums haben die prorussischen Separatisten mithilfe der Moskauer Truppen inzwischen erobert. Zum Vergleich: Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine kontrollierten die Separatisten weniger als ein Drittel des Gebiets. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte am Freitag, die «Befreiung der Luhansker Volksrepublik» stehe kurz vor dem Abschluss.

Kreml weiter von Kriegszielen entfernt

Und doch ist der Kreml weiter von seinen Kriegszielen entfernt als noch zu Beginn der sogenannten «militärischen Spezialoperation». Genau definiert wurden die Ziele in der Öffentlichkeit nicht, auch um sich Spielraum offen zu lassen. Doch neben der Eroberung der Gebiete Donezk und Luhansk wurde auch offen mit dem Anschluss weiterer, vorwiegend russischsprachiger Regionen der Ukraine geliebäugelt - einem Gürtel von Charkiw bis Odessa - sowie die «Entnazifizierung» und «Entmilitarisierung» der Ukraine deklariert. Diese Worte konnten nichts anderes als den geplanten Sturz der Regierung in Kiew bedeuten.

Folgerichtig zielte der russische Angriff von Anfang an auch direkt auf die ukrainische Hauptstadt. Mit dem erbitterten Widerstand der Ukrainer hatte in Moskau niemand gerechnet. Alexej Leonkow, Militärexperte des kremlnahen Journals «Arsenal des Vaterlands», räumte Kiew am Tag des Überfalls zwei bis drei Tage bis zur Kapitulation ein. Alexander Lukaschenko, Machthaber in Belarus, der den russischen Truppen bereitwillig sein Land als Aufmarschgebiet für den Angriff auf die Ukraine überließ, sprach noch vor dem Krieg im russischen Staatsfernsehen von drei bis vier Tagen, die so eine Auseinandersetzung im Fall des Falles dauern würde.

Geschafft wurde - aus russischer Sicht - wenig. Die Truppen vor Kiew musste der Kreml zurückziehen. Im Süden wurde mit Cherson nur eine einzige Gebietshauptstadt erobert. So muss schon die Eroberung der inzwischen völlig zerstörten Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine, als größter militärischer Erfolg herhalten.

Nach dem Scheitern der Offensive vor Kiew ist Ernüchterung eingekehrt. Selbst in Moskau gibt es trotz allem nach außen hin demonstrierten Zweckoptimismus erste Eingeständnisse von Unzulänglichkeiten. Russlands ehemaliger Innenminister Raschid Nurgalijew, inzwischen Vizesekretär des nationalen Sicherheitsrats, sprach von «Schwierigkeiten», Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow gar von «Fehlern», die am Anfang der Operation gemacht worden seien.

Nach den russischen Geländegewinnen der ersten Woche ist die Front weitgehend erstarrt. Selbst die Fokussierung auf den im Osten der Ukraine gelegenen Donbass hat keinen Durchbruch gebracht. Wo die Russen den Ukrainern an Feuerkraft voraus sind, haben diese wiederum dank der Drohnen eine bessere Übersicht und höhere Trefferquote und können so Durchbruchsversuche von Infanterie und Panzern zumeist rechtzeitig stoppen. Die urbane Bebauung bietet den Verteidigern dabei deutliche Vorteile.

Für die Ukrainer ist das Stoppen der russischen Offensive ein strategischer Sieg. Kiew mobilisiert seit Monaten neue Truppen, während Moskau mit dem Schritt zögert, auch weil eine Mobilmachung den eigenen Erfolgsmeldungen und dem Standpunkt widerspricht, dass es sich um eine begrenzte «Spezialoperation» und nicht um einen vollwertigen Krieg handelt. Sicher scheint aber, dass Russland mit dem derzeitigen Kräfteeinsatz nicht in der Lage ist, noch wesentlich voran zu kommen. Ob die frischen und mit westlichen Waffen ausgestatteten ukrainischen Truppen eine Wende erzwingen können, bleibt abzuwarten.

Genau wird in den Nato-Staaten der Verlauf der Kämpfe beobachtet. Für detaillierte Lehren sei es zu früh, sagte der deutsche Heeresinspekteur, Generalleutnant Alfons Mais, der Deutschen Presse-Agentur. Die Fehler der russischen taktischen Führung seien zu dominant, der bisherige Kriegsverlauf in hohem Maße durch ukrainischen Stärken geprägt, die aus Sicherheitsgründen zu recht noch sehr zurückhaltend offen gelegt würden.

«Ich befürchte, dass wir kein schnelles, klares Ende dieses Konfliktes vor uns haben, sondern dass es in ein zähes Ringen, vielleicht in einen «frozen conflict» mündet», sagte Mais. «Insgesamt bleibt unter dem Strich: Vertrauen zu zerstören dauert einen Tag, es wieder aufzubauen dauert Jahre. Wichtig ist daher, dass wir im Bündnis zusammen halten!»

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