Kommentar: Mesut Özil ist kein Hampelmann mehr

Der umstrittene Starfußballer tritt aus der Nationalmannschaft zurück. Sein verbaler Rundumschlag ist eine einzige Menschenrechtserklärung.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Mesut Özil zieht einen Schlussstrich unter seine Karriere in der Nationalmannschaft (Bild: Reuters)
Mesut Özil zieht einen Schlussstrich unter seine Karriere in der Nationalmannschaft (Bild: Reuters)

Schon interessant, wie viele lupenreine Demokraten in Deutschland unterwegs sind. Recep Tayyip Erdogan, das ist wirklich ein schlimmer Finger, und wer sich mit ihm ablichten lässt, hat ein Problem mit der Demokratie und mit den Menschenrechten – so die Lesart jener Superwertevertreter, die in Wirklichkeit nur eines ist: pure Heuchelei.

Diesem Geheul hat nun Mesut Özil ein Ende gesetzt. Es ist kein Happy End, aber wenigstens ist Özil, einer der aktuell besten Fußballer, sein eigener Regisseur geworden in diesem Stück der Schande. Wenigstens am Schluss.

Im Mai begann eine Debatte. Özil, in London bei Arsenal spielend, ging zu einer Benefizveranstaltung, bei der auch Erdogan weilte. Queen Elizabeth und Premierministerin Theresa May waren ebenfalls da, es soll auch von ihnen gemeinsame Fotos mit dem Sultan aus Ankara geben, aber da die beiden Damen sich Gerüchten zufolge nicht für die englische Nationalmannschaft beworben hatten, nahm man es ihnen nicht krumm.

Özil aber schon. Denn plötzlich holte mancher in Deutschland den Abakus heraus und machte folgende abstruse Rechnung: Demokratie gleich Grundwert gleich deutsch, ergo demokratisch gleich deutsch, ergo nicht demokratisch gleich nicht deutsch.

Niemand würde solchen Quatsch behaupten, es sei denn, es geht um unsere Haustürken. Denn die werden mit doppelten Maß gemessen. Die müssen höher springen.

Manche sind gleicher als gleich

Dass sich Lothar Matthäus mehrmals mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán fotografieren ließ, während der WM auch mit Wladimir Putin, also mit Erdogan politisch gesehen recht wesensnahen Typen, entfachte keine Debatte. Der Grund ist nicht, dass Matthäus als einstige Fußballikone heute nicht mehr ganz auf sportlicher Höhe ist, sondern dass man ihm seine Narreteien verzeiht. Ebenso wie man über Thomas Müller halb amüsiert die Augenbrauen ziehen würde, sollte er in vier Jahren bei der Fußball-WM in Qatar vor Fotos mit den dortigen Potentaten nicht Reißaus nehmen.

Der Unterschied: Özil ist Deutscher, aber nicht nur. Damit hat man in Deutschland ein Problem, und dies ist allein rassistischer Natur.

Denn von Özil wurde eine Erklärung gefordert, er sollte sich entschuldigen, er sollte sich zu den demokratischen Grundwerten bekennen, sonst würde sich ein Schatten auf „die Mannschaft“ legen, er für diese nicht wirklich spielen können. Hat man bei anderen Spielern einen Ideologiecheck veranlasst? Vielleicht ist Manuel Neuer ja ein verkappter Kommunist, und Jerome Boateng heimlicher Nachbar von Alexander Gauland? Der Türke aber, der musste zum Test.

Dabei wird übersehen, um wen es sich bei Erdogan handelt. Er ist gewählter Politiker, ein Repräsentant seines Landes. Ich persönlich verabscheue ihn und würde einen Fototermin womöglich nutzen für ein paar Fragen. Aber wie viele Fotos gibt es von ihm mit anderen Persönlichkeiten? Ist seine Partei AKP zugelassen? Dürfte Özil Werbung dafür machen? Er dürfte.

Aber unsere Kaspertürken lassen wir tanzen. Bei Özil hat es sich vorerst ausgetanzt.

Weil unsere Jungs bei der Fußball-WM schlecht spielten, stand Özil wieder im Vordergrund, obwohl er einer der besseren gewesen war. Als die deutsche Nationalmannschaft rausgeflogen war, zeigten die Blätter unisono Özil – als Symbol des Scheiterns. Das ist Rassismus. DFB-Boss Reinhard Grindel verlangte eine „Erklärung“ von Özil, während Teammanager Oliver Bierhoff öffentlich fabulierte, man wäre besser ohne Özil nach Russland gefahren. Dies war Sündenbocktalk, und dies zu einer Zeit, in der die Sozialen Medien, jener Unkenpfuhl politischer Auseinandersetzung, sich angefüllt hatten mit: Rassismus gegen Özil.

Ähnliches gab es in Brasilien und in Schweden. Als Jimmy Durmaz, schwedischer Nationalspieler mit türkischen Wurzeln, ein verheerendes Foul spielte, welches zum tollen Freistoßtor von Toni Kroos führte, wurde er rassistisch beschimpft. Und als Brasiliens Fernandinho ins eigene Tor köpfte, ging man ihn wegen seiner Hautfarbe an. Doch die Reaktion beider Mannschaften und beider Fußballbünde: Sie standen zu den Attackierten. „Fuck Racism“, posteten sie. Doch beim DFB herrschte Funkstille, und dann schlug man noch auf den Sündenbock ein. Welch ein moralisches Scheitern.
Es ist auch eine Schande, dass sich Özils Mitspieler nicht eindeutig bei dieser Posse auf seine Seite stellten.

Der DFB braucht eine neue Spitze

Von Reinhard Grindel indes ist nichts Großartiges zu erwarten. Er ist fußballerisch ein Außenseiter, war als Politiker pampiges Mittelmaß und als Journalist parteiischer Rundfunksapparatschik. Er sollte eine neue Karriere als Schrebergärtner anstreben.

Und wir sollten endlich lernen, dass ein Mensch Deutscher und Türke sein kann. Dass die französische Weltmeistermannschaft aus Franzosen besteht, und einige von ihnen tragen auch Afrika in ihrem Herzen. Oder was auch immer.

Özils verbaler Rundumschlag ist eine einzige Menschenrechtserklärung, und das bleibt sie trotz der verharmlosenden Äußerungen zu Erdogan. Denn hier geht es um Wichtigeres, nämlich um das Recht, als Bürger so behandelt zu werden, wie andere Bürger. Das könnten wir langsam kapieren. Özil bleibt uns dafür als mahnendes Beispiel.

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