Ukraine-Reporterin Katrin Eigendorf: "Die Russen sind kein modernes europäisches Volk"

ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf sammelte für ihre journalistisch saubere und dennoch menschlich-empathische Berichterstattung im Jahr 2022 zahlreiche Preise. Sie wurde zur "Journalistin des Jahres" gewählt, erhielt den Robert-Geisendörfer-Preis und einen Grimme-Preis. Im Interview blickt sie zurück auf ein Jahr Krieg in der Ukraine. (Bild: ZDF / Svea Pietschmann)

Keine deutsche Journalistin gewann 2022 so viele renommierte Preise wie Katrin Eigendorf, die derzeit vor allem aus der Ukraine berichtet. Zum Jahrestag des russischen Angriffes am 24. Februar zieht die 60-jährige Reporterin Bilanz: Was ist im letzten Jahr geschehen - und wie könnte es weitergehen?

Katrin Eigendorf, die selbst lange in Russland als Journalistin lebte, ist für die Deutschen über die letzten zwölf Monate so etwas wie das Gesicht der Ukraine-Kriegsberichterstattung geworden. Die ZDF-Reporterin sammelte für ihre journalistisch saubere und dennoch menschlich-empathische Berichterstattung im Jahr 2022 zahlreiche Preise. Im Interview zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar 2022 zieht Katrin Eigendorf Bilanz. Was ist bislang passiert - und wie könnte es weitergehen?

teleschau: Frau Eigendorf, Sie sind jetzt wieder in der Ukraine. Entscheiden Sie selbst, wie oft und wie lange Sie dort sind?

Katrin Eigendorf: Nein, wir sind eine Gruppe von Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Ukraine-Berichterstattung abwechseln. Ich arbeite jetzt sechs Wochen hier, und dann gehe ich für eine Zeit wieder nach Deutschland zurück. Das ist alles geplant und eher langfristig festgelegt. Ich habe ja eine Familie, und jeder von uns hat neben der Arbeit noch ein Privatleben, das man ein bisschen planen will. Man braucht zudem immer wieder mal eine Pause. Zum Beispiel nach sechs Wochen, das ist schon recht lange. Normal sind Einsätze zwischen drei und sechs Wochen. Aber weil die An- und Abreise ziemlich viel Zeit erfordert, würde es sich nicht lohnen, nur für einige Tage in die Ukraine zu fahren.

teleschau: Wie reisen Sie denn aus Deutschland an?

Katrin Eigendorf: Wir fliegen nach Polen, Warschau oder Krakau und fahren dann entweder mit dem Zug oder dem Auto nach Kiew. Dort haben wir eine feste Anlaufstelle eingerichtet, da befindet sich auch eine Position für Schalten in die Nachrichten- und Magazinsendungen. Von Kiew aus geht es recht häufig in den Osten der Ukraine oder zu anderen Orten, von wo es gerade wichtig ist, zu berichten. Meistens ist das irgendwo zwischen Charkiw, Odessa und Kiew.

Berichtet seit einem Jahr intensiv aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine: ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf im Gespräch mit einem ukrainischen Soldaten. (Bild: ZDF / Timo Bruhns)
Berichtet seit einem Jahr intensiv aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine: ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf im Gespräch mit einem ukrainischen Soldaten. (Bild: ZDF / Timo Bruhns)

"Die Gefahrenlage ist deutlich gewachsen"

teleschau: Wie groß ist Ihr Team?

Katrin Eigendorf: Neben mir arbeiten gegenwärtig ein Kameramann, ein Cutter, ein deutscher Producer, eine ukrainische Producerin, zwei Sicherheitsleute und unsere beiden Fahrer. In der Regel sind wir mit sechs bis acht Leuten unterwegs. Wenn wir an die Frontlinie fahren, mit Militärs oder in gefährlicheren Situationen drehen, verkleinern wir das Team, so weit es geht. Aber so in etwa vier Leute braucht man fast immer.

teleschau: Wie gefährlich ist es gegenwärtig, wenn Sie zu Einsätzen losfahren?

Katrin Eigendorf: Die Gefahrenlage ist deutlich gewachsen. Gerade im Osten wird in der Region Donezk, vor allem rund um Bachmut, schwer gekämpft. Es wird davon abgeraten, dass wir als Journalisten da hingehen. Vor zwei Wochen konnte man noch nach Bachmut hineinfahren. Das ist jetzt sehr gefährlich, weil die Stadt permanent beschossen wird und die Straßen auch abgeschnitten sind. In Kramatorsk waren wir auch noch vor kurzem. Auch da nehmen die Angriffe deutlich zu. Die Frühjahrsoffensive Russlands, von der alle reden, hat meiner Meinung nach schon begonnen. Auch in den großen Städten wie Charkiw ist es momentan alles andere als sicher. Es herrscht eigentlich täglich Luftalarm. Als wir neulich dort waren, wurden Wohnhäuser bei uns in der Nähe angegriffen, mitten im Stadtzentrum. Der Krieg ist allgegenwärtig.

teleschau: Haben Sie sich nach einem Jahr trotzdem ein Stück weit an diesen Ausnahmezustand gewöhnt?

Katrin Eigendorf: Nein. Daran kann man sich nicht gewöhnen. Das Ausmaß der Zerstörung, das wir hier erleben, daran kann man sich nicht gewöhnen. Woran man sich gewöhnt, ist die Ausnahmesituation. Am Anfang des Krieges bin ich noch bei jedem Luftalarm in den Schutzkeller gegangen. Mittlerweile schauen wir erst mal, ob es aus unserer Perspektive wirklich nötig ist. Würde man bei jedem Alarm in den Keller gehen, könnte man gar nicht mehr arbeiten. Man entwickelt gewisse Routinen, um mit der Situation umzugehen.

Katrin Eigendorf ärgert sich über die Passivität der Russen, die in sicheren Gefilden leben: "Wo sind zum Beispiel Russen in Deutschland, die gegen den Krieg auf die Straße gehen? Wir sehen dort nur die Unterstützer Putins. Und ich frage mich: Wo sind all die anderen?" (Bild: ZDF / Svea Pietschmann)
Katrin Eigendorf ärgert sich über die Passivität der Russen, die in sicheren Gefilden leben: "Wo sind zum Beispiel Russen in Deutschland, die gegen den Krieg auf die Straße gehen? Wir sehen dort nur die Unterstützer Putins. Und ich frage mich: Wo sind all die anderen?" (Bild: ZDF / Svea Pietschmann)

"Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben"

teleschau: Wie geht es den Ukrainern mit der "Gewöhnung" an den Krieg?

Katrin Eigendorf: Auch die Menschen, denen ich diese Frage stelle, sagen meistens, dass man sich nicht daran gewöhnen kann. Dafür ist die Situation zu schlimm. Ich lebe nicht hier und verlasse das Land wieder. Die Ukrainer aber sehen sich hier einem Vernichtungskrieg gegen ihr Land ausgesetzt. Um nichts anderes geht es Russland, das muss man so klar sagen. In der Ukraine herrscht eine permanente Zermürbung. Viele Menschen können ihre Kinder seit einem Jahr nicht mehr regelmäßig in die Schule schicken. Der Unterricht in Charkiw, immerhin die zweitgrößte Stadt der Ukraine, findet seit einem Jahr nur noch "online" statt. Die Kinder gehen nur sehr selten raus. Man kann sich vorstellen, was das für einen Stress für die Familien bedeutet. Regelmäßig fällt der Strom aus, es gibt manchmal kein Wasser. An eine Gewöhnung ist nicht zu denken. Und wenn man wirklich im Kampfgebiet lebt, kommen noch ganz andere Belastungen hinzu.

teleschau: Wie surreal ist es für Sie, zwischendurch wieder in Deutschland zu sein?

Katrin Eigendorf: Eigentlich ist der Wechsel für mich nicht dramatisch. Die Ukraine ist ein modernes europäisches Land. Es ist viel krasser, aus einem Land wie Afghanistan oder Syrien zurück nach Deutschland zu kommen. Außerdem hat einen der Alltag in Deutschland relativ schnell wieder, auch wegen der Familie. Da bin ich dann mit ganz banalen Dingen beschäftigt (lacht). Befremdlich wird es dann, wenn ich in einer Talkshow sitze und da auf Leute treffe, die sehr theoretisch und von weit weg über die Ukraine dozieren.

teleschau: Was nervt Sie an diesen Leuten?

Katrin Eigendorf: Befremdlich sind jene Leute, die meinen, die ukrainische Regierung müsse sich jetzt mit Russland an einen Tisch setzen und einen Friedensvertrag schließen. Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. Sonst würde es bedeuten, dass die Ukraine ihre staatliche Souveränität aufgäbe und von Russland besetzt würde. Mit den Konsequenzen, die wir jetzt in den besetzten Gebieten sehen: Plünderungen, Raub, Vergewaltigungen, Entführungen. Das Ziel der Russen ist die Vernichtung der ukrainischen Eigenständigkeit und damit auch der ukrainischen Kultur. Da frage ich mich, ob diese Menschen auch so argumentieren würden, wenn es um Deutschland ginge.

"Es ist der erste große Zivilisationsbruch in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg"

teleschau: Hat sich Ihr persönliches Bild des Krieges über die letzten zwölf Monate verändert oder ist es relativ stabil geblieben?

Katrin Eigendorf: Mein Bild hat sich schon verändert. Mir ist durch die Zeit und die Erlebnisse hier immer klarer geworden, um was für eine Art Krieg es sich handelt. Es war von Anfang an ein Vernichtungskrieg, aber die Dimensionen sind nun ganz deutlich: Es ist der erste große Zivilisationsbruch in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass Menschen auf offener Straße einfach umgebracht werden, dass Krankenhäuser beschossen werden, auf Flüchtende Raketen abgefeuert werden, dass Kinder entführt und Frauen vergewaltigt werden - das alles begleitet uns permanent in diesem Krieg. Ich sehe keine Anzeichen für eine Deeskalation. Im Gegenteil: Ich sehe, dass Russland immer weiter eskaliert. Dass diese Verbrechen immer schlimmer werden und stetig weiter zunehmen.

teleschau: Und das bedeutet was, wenn Sie mal eine Prognose wagen?

Katrin Eigendorf: Ich kann keine Prognose abgeben, denn die Entwicklung hängt von zu vielen Faktoren ab. Wann dieser Krieg enden wird, vermag niemand zu sagen. Das hängt davon ab, wie viele Ressourcen Russland noch mobilisieren kann und wie viel Waffen-Unterstützung die Ukraine durch den Westen erhält. Ich kann mir vorstellen, dass uns dieser Krieg noch über dieses Jahr 2023 begleiten wird. Die Zeit spielt gegenwärtig gegen die Ukraine, weil die Waffen nicht schnell genug kommen. Auf lange Sicht spielt sie jedoch gegen Russland, glaube ich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es langfristig die Ressourcen hat, um die Ukraine dauerhaft anzugreifen und besetzt zu halten.

teleschau: Zuletzt wurde im Westen viel über neue und veränderte Waffenlieferungen in die Ukraine diskutiert. Wann, glauben Sie, sehen wir die Effekte dieser Lieferungen?

Katrin Eigendorf: Jedes einzelne gepanzerte Fahrzeug, das geliefert wird, kann einen Unterschied ausmachen. Russland hat veraltete Waffensysteme und eine schlecht ausgebildete Armee mit veralteten Führungsstrukturen. Allerdings haben sie sehr viel von beidem - sowohl Material wie auch Menschen. Dem gegenüber steht eine gut ausgebildete ukrainische Armee mit großer Moral, weil sie ihr Land verteidigt, und mit guter, westlicher Technologie. Das brachte die Ukrainer zwischenzeitlich in einen Vorteil. Aber die Front und das Kriegsgebiet sind eben auch riesengroß, da ist es mit 14 Haubitzen oder Panzern nicht getan, sie brauchen viel mehr Ausrüstung. Die Ukrainer legen klare Zahlen auf den Tisch: Die Forderungen gehen in die Hunderte. Und es geht nun auch um Jagdbomber, um den Luftraum zu schützen. Es wird maßgeblich auf das Ausmaß westlicher Unterstützung ankommen, wenn es darum geht, wie schnell dieser Krieg beendet werden kann.

"Wo sind zum Beispiel Russen in Deutschland, die gegen den Krieg auf die Straße gehen?"

teleschau: Am Anfang des Krieges hatten viele die Hoffnung, in Russland würde man aufstehen gegen das System Putin. Diese Hoffnung wurde nicht bestätigt. Warum machen die Russen, ein modernes Volk Europas, diesen Wahnsinn inklusive Mobilmachung mit?

Katrin Eigendorf: Genau das ist der Punkt. Die Russen sind kein modernes europäisches Volk. Die Russen sind ein Volk, das in seiner gesamten Geschichte immer nur totalitäre Regime erlebte. In den 90er-Jahren gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Zeitfenster von einigen Jahren, etwa von 1991 bis 1999, da gab es aus meiner Sicht die Perspektive für eine Veränderung, für eine Öffnung. Dieses Fenster hat sich mit dem Zeitpunkt geschlossen, als Putin Präsident wurde. Der russische Widerstand gegen Putin beschränkt sich auf kleine Eliten, die der Gewalt des russischen Staates nahezu hilflos ausgeliefert sind. Die Opposition ist entweder im Ausland, tot oder in Lagern gefangen.

teleschau: Und die große Mehrheit des Volkes akzeptiert das?

Katrin Eigendorf: Nur eine Minderheit in Russland will diesen Krieg, aber man tut auch nichts dagegen. Der Krieg ist in Russland akzeptiert, zumindest geduldet. Ich bin sehr schockiert über die Empathielosigkeit, mit der nicht nur Menschen in Russland, sondern auch Russen im Ausland dabei zuschauen. Man kann natürlich sagen, dass die Russen daheim viel riskieren, wenn sie auf die Straße gehen. Aber wo sind zum Beispiel Russen in Deutschland, die gegen den Krieg auf die Straße gehen? Wir sehen dort nur die Unterstützer Putins. Und ich frage mich: Wo sind all die anderen?